Balerdi im FT-Interview: „In Deutschland war die Mentalität anders“

von Tristan Bernert - Quelle: FT-Info
8 min.
Leonardo Balerdi im Einsatz für Olympique Marseille @Maxppp

Nach einjähriger Leihe wechselte Leonardo Balerdi im Sommer fest von Borussia Dortmund zu Olympique Marseille. Im FT-Interview spricht der 22-Jährige über die Zeit beim BVB, seinen Transfer und wie es ihm seitdem bei OM ergangen ist.

FT: Seit Ihrer Ankunft in Europa sind zwei Jahre vergangenen. Haben Sie sich bereits an das Leben auf einem fremden Kontinent gewöhnt?

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Leonardo Balerdi: Ich bin seit zwei Jahren hier und fühle mich mit jedem Tag wohler. Manchmal war ich etwas ungeduldig und hatte schwierige Momente. Es war eine Umstellung. Heute fühle ich mich viel besser. Ich nehme mir die Zeit, die ich brauche. Hoffentlich kann ich manche Aspekte meines Spiels weiter verbessern.

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Sie sind bereits in jungen Jahren nach Deutschland gewechselt. War es rückblickend vielleicht ein bisschen zu früh?

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Nein, ich denke oft, dass der Fußball manchmal einfach so ist. Ich bin früh nach Europa gewechselt, was mir erlaubte, mich früh anzupassen. Ich bin erst 22 Jahre alt, habe aber bereits zwei Jahre europäischen Fußball hinter mir. Ich fühle, dass ich mittlerweile viel besser etabliert bin. Aber es ist wahr, manchmal denke ich schon, dass der Wechsel nach Europa vielleicht etwas zu früh kam. Aber dann denke ich daran, dass es auch Vorteile hatte. Ich habe jetzt zwei Jahre mehr Erfahrung in Europa.

Haben Sie Ihre Ablöse (rund 15 Millionen Euro, Anm. d. Red.) beim Wechsel zum BVB als Druck empfunden?

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Ich denke darüber nicht nach. Wenn man jedes Mal darüber nachdenken würde, wie viel Ablöse man gekostet hat, wäre das schon kompliziert. Ich sage mir einfach nur, dass ich das in mich gesteckte Vertrauen zurückzahlen muss. Und dass sich dieses Vertrauen in der Ablöse ausdrückt. Für mich heißt das also, pünktlich zum Training zu erscheinen, Präsenz zu zeigen und im Spiel alles zu geben.

Wie würden Sie die Gelbe Wand in Dortmund mit der Bombonera, dem Stadion der Boca Juniors, vergleichen?

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Die Atmosphäre ist unglaublich. Es sind 83.000 Zuschauer bei jedem Spiel. Man kann es aber nicht mit der Unterstützung in Argentinien oder Marseille vergleichen. Aber es ist definitiv ein schönes Stadion mit einem Publikum, das viel singt und die Mannschaft unterstützt.

„Einer der besten Verteidiger der Welt werden“

Pablo Longoria (Klubpräsident, Anm. d. Red.) hat ebenfalls Marseille mit den Boca Juniors verglichen…

Ich denke genau wie Pablo, ich habe es bereits gesagt: Marseille ist Boca sehr ähnlich, nicht nur wegen des Stadions, das für mich eines der besten in Frankreich ist. Auch wegen der Fans und dieser Energie, mit der sie uns pushen. Wir haben hier in Marseille – wie auch bei Boca – ein Publikum, das es schafft, das Spiel mit seiner Unterstützung zu verändern, selbst wenn es für uns einmal nicht so gut läuft. Sie zwingen dich damit, alles zu geben und konzentriert zu bleiben. Auch der Gegner spürt diesen Druck. Der Gegner hat Angst, in der Bombonera zu spielen. Hier ist das ähnlich, und ob Boca oder OM: Bei Auswärtsspielen sind immer Fans dabei, unabhängig davon, ob man national oder international spielt. Das ist unglaublich. Es sind zwei Vereine, die weltweit bekannt sind.

Als Sie zu OM gewechselt sind, kannte man Sie in Frankreich nicht gut, aber Ihr damaliger Trainer André Villas-Boas hat Ihnen ein tolles Kompliment gemacht, indem er prognostizierte, dass Sie in ein paar Jahren einer der besten Verteidiger Europas sein werden. Wie nimmt man das auf als Spieler, der zuvor kaum als Profi gespielt hat?

Es macht einen unglaublich stolz, wenn ein Trainer wie er so etwas sagt. Das hat mir auch den Ansporn gegeben, mich selbst zu übertreffen und immer alles geben zu wollen. Es ist eines meiner Ziele, einer der besten Verteidiger der Welt zu werden. Das würde ich gerne erreichen.

„Wie zu Hause gefühlt“

Im vergangenen Jahr waren Sie nur an OM ausgeliehen. Ab welchem Zeitpunkt war Ihnen klar, dass Sie bleiben wollen?

Schon in den ersten Tagen. Die Stadt hat mir sehr gut gefallen, der Verein auch. Von Anfang an habe ich mich wie zu Hause gefühlt und hatte dieses Gefühl, zu OM zu gehören. Ich habe mir gesagt, dass ich hier glücklich werden würde, wenn ich gute Leistungen zeige und der Klub mich festverpflichtet. Die Verantwortlichen haben mir viel Vertrauen geschenkt. Die Fans natürlich ebenso, aber auch meine Mitspieler, alle hier im Klub. Von den ersten Tagen an hatte ich Lust zu bleiben.

Sie konnten sich jetzt ein Jahr einleben. Was schätzen Sie an Marseille?

In Deutschland war es ganz anders als hier, vor allem was die Mentalität angeht. Hier kommt es der argentinischen Mentalität schon sehr nah – im Fußball und in der Lebensweise. Ich liebe die Stadt. Es gibt hier sehr schöne Orte und das Klima ist auch gut, aber das ist ja sowieso bekannt.

Nach Ihrer Ankunft haben Sie verraten, dass Darío Benedetto bei Ihrem Wechsel eine Rolle gespielt hat. Bedauern Sie, dass er im Sommer gegangen ist?

Ja, das ist ein bisschen schade für mich. Er war nicht nur ein großartiger Spieler, sondern auch ein sehr guter Freund. Wir haben alles zusammen gemacht. Auf dem Weg zum Training habe ich zum Beispiel den Mate-Tee zubereitet, wenn er mich im Auto mitgenommen hat – oder umgekehrt. Es war ein bisschen schwierig für mich, als er weg war, denn er ist ein Argentinier und ein Freund, aber wenn er sich dort wohlfühlt, wo er jetzt ist (FC Elche, Anm. d. Red.), freut mich das für ihn.

Es wird viel über individuelle Fehler gesprochen, die Sie in Ihrer Zeit bei OM gemacht haben. Wie erklären Sie sich diese Fehler?

Ich denke, dass ich diese Fehler vor allem in den ersten Spielen gemacht habe. Ich will noch einmal daran erinnern, dass ich sowohl bei Boca als auch beim BVB kaum Profispiele absolviert habe. Es stimmt, dass ich mit vielen großen Spielern in einer Mannschaft war, aber viel Spielpraxis habe ich nicht bekommen. Ja, man kann schon sagen, dass es diese kleinen Anfängerfehler gab. Aber ich habe daran gearbeitet und arbeite nach wie vor. Ich denke, dass ich jetzt weniger Fehler mache und dass es mit der Zeit immer weniger werden. Ich arbeite weiter daran, meine Konzentration aufrechtzuerhalten und mich zu verbessern, damit ich dem Team bestmöglich helfen kann.

„Mental beschäftigt das einen“

Haben neben der geringen Spielzeit vielleicht auch die Tatsachen eine Rolle gespielt, dass sie nur ausgeliehen waren und wenig persönliche Stabilität hatten?

Ja, mental beschäftigt das einen schon. Das Mentale ist im Fußball sehr wichtig. Ein glücklicher und konzentrierter Spieler wird immer besser spielen. Diese Dinge gingen mir schon etwas durch den Kopf, aber ich muss auch wissen, wie ich das beiseiteschieben und mich auf Fußball konzentrieren kann. Das sind Dinge, die man mit zunehmender Erfahrung lernt. Natürlich gab es diese Unsicherheit, ob ich hierbleiben oder nach Dortmund zurückkehren werde. Diese Dinge haben mich schon etwas unter Druck gesetzt, aber ich denke, dass ich mich gut geschlagen habe, schließlich bin ich bei Marseille geblieben – dem Klub, bei dem ich sein möchte.

Mit Benedetto hat Sie ein Argentinier verlassen, aber mit Ihrem Trainer Jorge Sampaoli haben Sie einen neuen hinzugewonnen. Was hat sich für Sie verändert?

Er hat mir sehr geholfen. Er hat mir geholfen, meine Position besser zu verstehen und mit verschiedenen Spielsituationen umzugehen. Ich denke, dass das Team und ich weiter auf ihn hören müssen. Er ist ein sehr guter Trainer, er hilft uns sehr. Er hat mir zu mehr Spielzeit und Selbstvertrauen verholfen. Das ist für meine Weiterentwicklung sehr wichtig.

Was sind die Unterschiede zwischen Villas-Boas und Sampaoli, was die Trainingsgestaltung und die Gesprächsführung betrifft?

Zu Jorge Sampaolis Philosophie gehören sehr hohes Pressing und ein flacher, geordneter Spielaufbau. Er möchte kontrolliert aus der Defensive heraus aufbauen. Aber mehr als alles verlangt er eine sehr hohe Intensität. Unter André Villas-Boas gab es auch einen Spielaufbau mit Kurzpässen, aber sein Gegenpressing war weniger intensiv. Sie sind zwei große Trainer mit unterschiedlichen Qualitäten. Bei Villas-Boas kann man noch seine Kommunikationsfähigkeit hervorheben, denn er spricht mehrere Sprachen. Sie sind sehr gute Trainer, aber sie sind unterschiedlich.

OM war in den ersten Wochen der Saison spektakulär. Das hat zuletzt etwas nachgelassen. Hat die hohe Anzahl an Spielen eine negative Auswirkung auf die Gruppendynamik und das Training gehabt?

Es stimmt, dass wir in den ersten Wochen ein sehr gutes Team waren und sich unser Niveau seitdem vielleicht etwas verschlechtert hat. Man muss die Müdigkeit berücksichtigen, die sich einstellt, wenn man alle drei Tage spielt. Vielleicht fehlt uns die letzte Konsequenz im Abschluss, während wir in der Defensive weniger Fehler machen könnten. Wir müssen aber unseren Weg fortsetzen und so viele Punkte wie möglich sammeln, denn die Mannschaften in der oberen Tabellenhälfte verlieren nur sehr wenig Punkte. Wenn wir in der oberen Tabellenhälfte bleiben wollen, was unser Ziel ist, müssen wir weiterhin Spiele gewinnen. Man muss die Ruhezeiten effektiv nutzen und dann weiterhin 100 Prozent geben, um der Mannschaft so viel wie möglich zu helfen.

Ist es schwieriger, die Spielphilosophie des Trainers zu erlernen, wenn man alle drei Tage spielen muss?

Ja, wenn man alle drei Tage spielt, hat man weniger Zeit, um zu arbeiten. Es wird dann schwieriger, sich zu verbessern. Aber wir sind nicht das einzige Team, dem es so geht. Wir müssen einfach an unsere ersten Leistungen anknüpfen. Wir müssen im Abschluss klarer werden und defensiv kompakter stehen, damit wir bis zum Ende der Saison ein starkes Team sind.

„Es macht Spaß“

Kommt Sampaolis System Ihren Qualitäten entgegen?

Mir gefällt seine Art zu spielen sehr gut. Ich fühle mich damit sehr wohl, auch wenn ich weiß, dass es Spieler auf anderen Positionen vielleicht schwerer haben. Wir müssen so weitermachen, ich fühle mich sehr wohl. Wir spielen ein Spiel mit vielen Pässen und wir stehen gut. Es macht Spaß, mit dieser Formation zu spielen.

OM ist der Verein, für den Sie als Profi die meisten Spiele absolviert haben. Was bedeutet das für Sie?

Das bedeutet mir sehr viel. Es ist der erste Verein in Europa, bei dem ich mich gut eingelebt habe und bei dem ich viel spiele. Es ist ein Verein, der mich an Boca Juniors – meinen Herzensverein – erinnert. Daher werde ich alles tun, um so lange wie möglich hierzubleiben, den Fans Freude zurückzugeben und das Beste für den Verein zu tun.

Das Interview führte unser französischer Korrespondent Constant Wicherek

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